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Mutterseelenallein

Im Prozess um die verhungerte Jessica wird demnächst das Urteil gesprochen. Die Richter müssen dabei auch entscheiden: Wie schwer wiegt die Schuld einer Mutter, die als Kind selbst gequält wurde?

Alles, was das Kind kennt, ist ein düsterer Raum. Der Boden besteht aus gestampfter Erde, das Bett, auf dem es Tag und Nacht liegt, ist ein Strohsack. Vor den verglasten Fenstern, durch die Licht hereinfallen soll, ist Holz aufgestapelt, sodass in der Kammer auch am Tage tiefe Dämmerung herrscht und dem Kind jeder Zeitbegriff abhanden kommt. Die Temperatur ist immer gleich. Irgendwo gibt es eine Tür, die aber ist verriegelt. Während das Kind schläft, muss manchmal jemand hereinkommen, denn Wasser und Brot stehen oft neben dem Lager. Aber niemand wäscht das Kind, niemand richtet ein Wort an es, und niemand berührt es. Das Kind kann nicht laufen und nicht sprechen, nie sieht es ein menschliches Wesen. Die spärlichen Erinnerungen an sein Verlies hat man dem Kind später entlocken können, weil es die Einzelhaft überlebt hat. Später, als seine Füße das Laufen gelernt haben und die Augen sich vor dem Tageslicht nicht mehr schließen müssen. Als es einfache Sätze sagen kann und nicht mehr nur Laute ausstößt oder Wortgehäcksel. Als man das Kind bei dem Namen ruft, der auf einem Brief in seiner Jacke gestanden hat: Kaspar Hauser.

Jessica kann nichts mehr erzählen, ihre Geschichte musste rekonstruiert werden: Ihre Umgebung – ein kahler, düsterer Raum. Der Boden – ein löchriger Teppich, durch den stellenweise der blanke Estrich kommt. Das Stockbett, auf dem sie zum Schluss nur noch liegt, trägt eine verrottete Matratze und eine schmutzige Decke ohne Überzug und fast ohne Federn. Die Fensterflügel des Kinderzimmers sind mit dunkler Folie abgeklebt, sodass im Raum auch tagsüber ein Dämmerzustand herrscht, der jeden Zeitbegriff aufhebt. Der Drehgriff der Heizung ist fixiert, die Temperatur bleibt immer gleich. Die Zimmertür ist von außen verschlossen. Damit auch vom Flur aus kein Lichtstrahl ins Zimmer falle, ist das Schlüsselloch zugeklebt. Manchmal – immer seltener – muss eine Frau hereingekommen sein und das Kind, das sich nur durch Laute verständlich macht, gefüttert haben. Laufen kann Jessica da längst nicht mehr, ausgebesserte Stellen an ihrer Jeanshose lassen vermuten, dass sie sich monate-, vielleicht jahrelang nur auf dem Gesäß rutschend fortbewegt hat. Niemand wird Jessica das Sprechen lehren, niemand wird ihr – wie das zwei fränkischen Lehrern vor bald 200 Jahren beim Findelkind Kaspar Hauser gelang – Auskünfte über das Verlies entlocken, in dem sie jahrelang verkümmerte. Jessica hat ihre Dunkelhaft nicht überlebt. Sie starb siebenjährig am 1. März 2005 in der elterlichen Wohnung in Hamburg-Jenfeld an den Folgen ihrer Isolation und an Unterernährung.

Vor einer Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hamburg sind nun Jessicas Eltern angeklagt wegen gemeinschaftlichen Mordes durch Unterlassen. Der Staatsanwalt wirft ihnen vor, ihre Tochter in der gemeinsamen Wohnung »gequält« und durch »böswillige Pflichtverletzung« in ihrer »körperlichen und seelischen Entwicklung« schwer geschädigt zu haben. Als Jessica schließlich nicht mehr vorzeigbar war, hätten die Angeklagten sie zur Verdeckung der eigenen Schande »grausam getötet«. Der Saal 237 ist voll bis auf den letzten Platz. Der Fall wühlt die Leute auf. Gleich zu Beginn muss der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg einen Randalierer hinausweisen, der seiner Wut Luft macht.

Jessicas Vater, der arbeitslose Maler Burkhard M., wird stets zuerst hereingeführt: ein Vorstadtindianer mit schlohweißem Pferdeschwanz. Obwohl erst 50, kommt er wie ein Greis daher. Er setzt sich und starrt zur voll besetzten Pressebank hinüber, ohne Neugier, ohne Scham, ohne Aggression. Es ist der abgestorbene, irgendwo am Horizont hängen gebliebene Blick eines Alkoholikers, der Blick eines Immermüden, der durch nichts mehr aus der Lethargie zu reißen ist – der Blick eines Menschen, neben dem ein Kind verhungert.

Dann huscht gesenkten Hauptes Marlies S. herein, Jessicas 36 Jahre alte Mutter. Sie rutscht hastig auf ihren Platz, wendet sich zur Seite und verkriecht sich förmlich im hölzernen Schnitzwerk des alten Gerichtssaals. Mit den Händen schützt sie sich gegen die Blicke der Medienvertreter. So verharrt sie alle Tage. Bei keinem Zeugen, keinem Sachverständigen hebt sie den Kopf, nur manchmal, wenn es schlimm kommt, weint sie still in ihre Ecke. Ihr Gesicht ist von wächsernem Grau, fast wie das einer Toten.

Burkhard M. macht von seinem Recht Gebrauch, vor Gericht zu schweigen. Dem Haftrichter hat er gesagt, er habe die Tochter kaum wahrgenommen, Jessica sei die Sache von »Frau S.« gewesen. Jetzt sitzt er da und schaut.

Frau S. dagegen will aussagen. Das tut sie so leise, dass trotz der Mikrofonanlage selbst die Richter nichts verstehen und die Leute im Publikum zu schimpfen anfangen. Der Vorsitzende versucht die Angeklagte aufzulockern: »Wie haben Sie denn ihren eigenen Vater erlebt?«, beginnt er freundlich. »Gar nicht erlebt«, flüstert Marlies S. »Wie war Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter?« – »Schlecht.« – »Können Sie das beschreiben?« – »Sie war immer betrunken.« – »Wann haben Sie sie so erlebt?« – »Ich hab sie nur so gesehen, von morgens bis abends. Die Mitschüler…« Der Satz wird zum Wispern. »Bitte, Frau S.«, sagt Richter Schaberg mit aller Liebenswürdigkeit, die er aufbringt, »reden Sie doch ein bisschen lauter!« – »Die Mitschüler haben das auch irgendwann mitgekriegt«, kann vernehmen, wer die Ohren spitzt. »Sind Sie gehänselt worden?« – »Sie wollten mich verprügeln, weil meine Mutter eine Hure ist.« – »War da was dran?«, forscht der Vorsitzende. »Ja«, haucht Marlies S. – »War sie eine Art Hobbyprostituierte?« – »Ja.« – »Hat das schon zur Schulzeit angefangen?« – »Ja.«

Kein Teddy, kein Kasperle, kein Buntstift

Euphemistisch ausgedrückt: Marlies S. hatte keine schöne Kindheit. Das wird allen klar im Saal. Sie ist eine Überlebende, eine Schwerbeschädigte, die sich irgendwie allein durchgeschlagen hat. Ihre zwei älteren Brüder starben unter ungeklärten Umständen im Säuglingsalter, der Familiensage nach soll die Mutter nachgeholfen haben. Die Mutter selbst wird als haltlos geschildert, als eine, die ihre Nächte in Spelunken vertrinkt, Zechbrüder aufgabelt und abschleppt. Die kleine Marlies bleibt sich selbst überlassen, als Zeichen der Zuwendung wird sie mit dem Kochlöffel verhauen, bis der in Stücke bricht. Was mag in einem Kind vorgehen, dem so etwas widerfährt? Das immer verlassen ist? Dem niemand den heißen Kopf streichelt, wenn es krank ist? Das niemand tröstet, wenn es Kummer hat? Dem niemand antwortet, wenn es nachts ruft? Und was für ein Erwachsener wird aus so einem Kind?

Als Marlies etwa sechs ist, tut sich die Mutter in einem inzestuösen Verhältnis mit ihrem eigenen Onkel zusammen. Die drei hausen jetzt in einer Einzimmerwohnung, wo alle Verrichtungen des Geschlechtslebens ohne Rücksicht auf die Kleine stattfinden. Es wird gequalmt, Schnaps und Kaffee getrunken, feste Mahlzeiten gibt es nicht. »Kinder sind wie Unkraut, die finden selber was zu essen«, philosophiert der Onkel, und die Mutter hält sich dran. Eine Verwandte der Marlies S., die damals einige Tage in diesem Ambiente verbringen musste, sagt im Prozess unter Tränen aus. Das Kind habe die ganze Zeit im Bett liegen müssen, den Kopf unter der Decke: »Wenn sie nur mal rausguckte, ist der Onkel aufgesprungen, hat sie aus dem Bett gezogen und mit dem Kopf auf den Boden geknallt.« Die Stimme der Zeugin bricht: »Ihre Mutter hat nichts dagegen unternommen und ich auch nicht.« Die Frau zittert vor Reue.

Wie ihr Verhältnis zur Mutter sei, will der Vorsitzende von der Angeklagten wissen. »Es gibt kein Verhältnis«, flüstert sie, »da ist nur Hass, Hass, Hass!« – »Gibt es etwas besonders Schönes in Ihrer Erinnerung?« Kopfschütteln. »Etwas besonders Schlimmes?« – »Ja, als der Onkel mich angefasst hat.«– »Haben Sie Ihre Mutter um Hilfe gebeten?« – Kopfschütteln: »Sie hat dabei zugesehen.« Die Übergriffe hätten erst aufgehört, als es aus gewesen sei zwischen der Mutter und ihrem Onkel.

Als das Mädchen stirbt, bleibt der Vater vor dem Fernseher sitzen

Das Gericht hat auch die Mutter der Marlies S. hören wollen, die aber hat von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Weniger Zurückhaltung zeigte sie gegenüber den Medien. Schon kurz nach dem Tod ihrer Enkelin Jessica überschüttete sie die Tochter im Fernsehen mit Hasstiraden, und zum Prozessbeginn forderte ausgerechnet sie in der Bild- Zeitung, man möge ihre Tochter mindestens lebenslang einsperren und am besten noch zwangssterilisieren. Angesichts dieses Vernichtungswillens kann man sich vorstellen, was dem Kind einst widerfuhr.

Erst als die Mutter für einige Monate ins Gefängnis musste, gelang Marlies die Flucht. Sie kam bei einer Tante unter. Über die Vergangenheit schwieg sie sich aus, ein in sich gekehrtes, verschlossenes Kind. Den Kontakt zur Mutter brach die 13-Jährige für immer ab.

Die Fotos, die die Hamburger Polizei vom Appartement gemacht hat, in dem Jessica starb, zeigen eine ganz normale Wohnung der Unterschicht, in einem ganz normalen Hochhaus, das Hartz-IV-Familien beherbergt, eine über der anderen. In der Küche sieht es unaufgeräumt aus, aber keineswegs chaotisch. Die geöffneten Hängeschränke geben den Blick frei auf Reis und Nudeln, Gemüsebüchsen und die – diskret verstellten – Schnapsflaschen des Burkhard M. Im Wohnzimmer die Couch, gegenüber der Fernseher, ein Computer. Auf dem Teppich putzt sich eine fette Katze neben einem Luftballon mit dem Aufdruck »Ein Herz für Kinder«. Alles wirkt gewöhnlich, keine Andeutung von Tod und Qual.

Dann, am Ende des Ganges – die Tür mit dem verklebten Schlüsselloch. Dahinter der kindliche Kerker, ein Loch für wilde Tiere. Kein Teddy, kein Kasperle, kein Buntstift. Schimmel an den Wänden, der Teppichboden in Fetzen, Müll auf dem leeren Schrank. Den Putz hat die kleine Gefangene in ihrer Not ringsum von den Wänden gekratzt. In Märchen kommen solche Räume vor, die am Ende eines Ganges liegen und für die es keinen Schlüssel gibt, deren Betreten bei Todesstrafe verboten ist, weil sie böse Geheimnisse bergen.

Die Jenfelder Wohnung spiegelt das Leben der Marlies S. – dem Anschein nach verläuft es normal. Ohne Sitzenbleiben schafft sie den Hauptschulabschluss, sie heiratet, trinkt keinen Alkohol, lebt in äußerlich geordneten Verhältnissen, erst mit ihrem Ehemann, dann mit Burkhard M. Sie funktioniert, soziale Entgleisungen sind nicht bekannt. Erst als sie Mutter wird, tut sich die Tür zu ihrer dunklen Vergangenheit auf.

Noch in der Obhut der Tante, gerade volljährig, bekommt sie den ersten Sohn, André. Sie heiratet ihren Freund Ralph und zieht aus. Auch die Tante weint bei der Zeugenaussage. Dem kleinen André erging es schlecht bei seiner Mutter: »Aber wenn man einen Menschen besucht, den man gern hat, verdrängt man vieles.« Dauernd lag der Säugling allein im verdunkelten Zimmer, nie habe Marlies ihn geholt. Als André sieben Monate alt ist, hütet die Tante ihn übers Wochenende. Am Montag will Marlies den Jungen nicht mehr zurück. Er wird zur Adoption freigegeben. Heute besucht er das Gymnasium.

Auch Ralph S., der Geschiedene der Marlies S., tritt vor Gericht auf. Er erzählt von Schnullern, die am Mund festgeklebt wurden, und von Windeln, die niemand wechselte, weil Marlies schon vom Geruch übel wurde. Trotzdem zeugt er nach Andrés Adoption noch zwei weitere Kinder mit ihr. Aber auch viele Kinder machen Marlies S. nicht zur Mutter: Als der zweitgeborene Philipp schwer erkrankt und wochenlang in der Klinik liegt, lässt sie sich nicht blicken. Und die Betreuung der kleinen Jacqueline lastet ebenfalls allein auf Ralph. Durch die Wohnung des Ehepaars läuft bald ein tiefer Graben: Auf der einen Seite zieht der Vater zwei Kinder auf, auf der anderen Seite sitzt die Mutter, Süßigkeiten vertilgend, vor dem Fernseher. Marlies habe die Kleinen verabscheut, sagt S.: »Sie betrat ein Zimmer erst, wenn sie raus waren.« Die Kinder hätten ihre Mutter nicht einmal berühren dürfen. Sei eines auf sie zugekrabbelt, habe Marlies hysterisch geschrien: »Nimm das Kind weg! Nimm das Kind weg!« Als sehe sie nicht ihr Baby, sondern eine Ratte. Irgendwann habe er von Marlies genug gehabt, sagt der Zeuge, er habe ihr die Sachen vor die Tür gestellt und den Hausschlüssel verlangt.

Noch an ihrem Todestag wird Jessica obduziert, die Eltern hatten die Feuerwehr gerufen. Auf den Fotos, die im Gericht gezeigt werden, ist die Leiche eines Kleinkindes zu sehen, mit schneeweißer Haut, die sich pergamenten über ein Skelett spannt. Ein zartes, vom Todeskampf entstelltes Gesichtchen. Was muss Jessica ausgestanden haben! Das Körpergewicht der Siebenjährigen betrug 8,7 Kilo, zuzüglich 870 Gramm Kotstein, der als Folge von Wassermangel den Darm des Kindes vollständig verstopft hatte. Man müsse schon bis zu den Sektionsprotokollen des Warschauer Ghettos zurückgehen, um solch einen Befund in Europa aufzutreiben, sagt der Gerichtsmediziner. Im Übrigen hat er sich an die Erkenntnisse aus den Hungerzonen Afrikas gehalten. Doch Hunger war nur die indirekte Todesursache. Am Abend vor ihrem Ende hat die Mutter Jessica mit Hühnerfrikassee gefüttert, der Speisebrei konnte den versteinerten Dickdarm nicht passieren, und Jessica erbrach. Geschwächt von jahrelanger Mangelernährung, erstickte das Kind am eigenen Erbrochenen. Zuvor muss es aber noch um Hilfe gerufen haben, denn Burkhard M. hat der Polizei zu Protokoll gegeben, er habe es aus dem Verlies noch »meckern« und »quaken« gehört, habe es aber, vor dem Fernseher sitzend, nicht für nötig gehalten, nach der Eingesperrten zu sehen.

Geprügelt wurde Jessica nicht, die Leiche trug keine Zeichen von Gewalt. Es war die Apathie des Vaters und die unterschwellige Gehässigkeit der Mutter, die ihr das Leben nahmen.

Anfangs – als sie mit M. und anderen Personen noch in einer Wohngemeinschaft lebte – scheint Marlies S. es mit ihrem vierten Kind immerhin versucht zu haben: Frühe Familienfotos zeigen ein Baby, das zumindest normal aussieht, später stehen und gehen kann. Doch im Jahr 2000, nach dem Umzug der Kleinfamilie in jene Jenfelder Anonymität, bricht die Fotoserie ab. Da ist Jessica knapp drei. Danach hat so gut wie kein Zeuge das Mädchen mehr gesehen. Ihr Kaspar-Hauser-Schicksal hat begonnen.

Von Kaiser Friedrich II., dem Staufer aus dem 13.Jahrhundert, weiß man, dass er wissenschaftliche Versuche mit kleinen Kindern anordnete. Er ließ sie in totaler Isolation aufwachsen, ohne die geringste Zuwendung, ohne Zärtlichkeit, ohne ein Wort – auf diese Weise hoffte er zu erfahren, welche Sprache dem Menschen angeboren sei: Griechisch, Lateinisch oder Hebräisch. Doch die Kinder sprachen nicht, sie starben alle, obwohl sie sauber gehalten und gefüttert wurden. »Sie können nicht leben ohne Händeklatschen und Winken«, schreibt ein zeitgenössischer Chronist, »ohne fröhliches Lächeln und ohne Koseworte.« Ein Wunder, dass Jessica so lange durchgehalten hat. »Sie war nicht einfach nur zu dünn, sondern auch geistig und psychisch schwer beschädigt«, sagt der Rechtsmediziner, »sie litt am Kaspar-Hauser-Syndrom.« Jessica zeigte massive Verhaltensauffälligkeiten: Fast alle Haare hatte sie sich ausgerupft und immer die Kleider vom Leib gerissen. Deshalb fing ihre Mutter irgendwann an, Unterwäsche und Hosen mit Kabelbinder am Körper der Tochter zu fixieren. Als man Jessicas Leiche fand, war sie mit dem Plastikklebeband förmlich verschnürt. Sämtliche Spielsachen habe das Kind zerstört, klagt Frau S. dem Gericht, alles habe sie ihrer Tochter wegnehmen müssen. Und zuletzt habe sie auch die Nahrung verweigert. »Sie wollte nicht mehr trinken«, beteuert die Angeklagte leise, »nicht mal aus der Nuckelflasche.« Sind das Schutzbehauptungen einer Kindsmörderin? Oder konnte Jessica nicht mehr, so mutterseelenallein? Vorstellbar wäre es, dass sie – wie die Kinder des Staufers – das Leben einstellte.

Jessicas langes Sterben vollzog sich unbemerkt von der Zivilisation. Die Hamburger Behörden hatten sie aus dem Blick verloren, ihre Eltern lebten eingesponnen und weitab jeder sozialen Kontrolle. Kein Fremder hat die Wohnung betreten. Und die wenigen Personen, mit denen die Eltern umgingen, waren von ihrem eigenen Untergang vollständig in Anspruch genommen. Von Alkoholsucht und Arbeitslosigkeit, von Depression und Partnerproblemen. Wie hätten sie solch sinistrem Verbrechen auf die Schliche kommen sollen?

Gundula, der einzigen Freundin der Angeklagten, ist aufgefallen, dass diese noch Windeln kaufte für ihre siebenjährige Tochter. Aber Marlies sei ihr eine Erklärung schuldig geblieben. »Ich hatte den Eindruck, dass sie sich dauernd Sorgen gemacht hat um Jessica«, sagt Gundula, eine verhärmte Erscheinung mit schriller Stimme, auch deshalb habe sie den stillen Verdacht gehegt, das Kind sei behindert. Marlies dagegen habe im Viertel verbreitet, ihre Tochter lebe meistens bei einer Pflegemutter. Sonst weiß die Zeugin nicht viel von der Angeklagten: »Über die Vergangenheit wurde nicht gesprochen. Marlies und ich sind Menschen, die in der Gegenwart leben.«

Im Gerichtssaal 237 wird versucht, das Böse plausibel zu machen

Auch die Nachforschungen von Thorsten, einer Wurstbudenbekanntschaft der Marlies S., blieben erfolglos. Mit ihm ging die Angeklagte im Frühling 2004 – als die Zweisamkeit mit Burkhard M. bröckelte – eine kurze Liebschaft ein. Zeitweise habe Marlies sogar bei ihm gewohnt, sagt der Zeuge, doch auf die Frage, wer sich inzwischen um ihr Kind kümmere, sei die sonst so schüchterne, stille Frau »regelrecht aggressiv« geworden. Als Thorsten – die gemeinsame Zukunft im Blick – auf einem Treffen mit der unsichtbaren Tochter besteht, macht Marlies sofort Schluss. Es mag an der Aussage der Angeklagten, sie habe sich doch »immer nur um die Lütte gekümmert«, etwas Wahres sein. All ihren Verstand verwandte sie darauf, durch Ausreden und Winkelzüge die Lage zu kaschieren. Das Mädchen war der Stachel im Fleisch der Mutter, ihr Haut und Knochen gewordenes Scheitern. Wie ein Geschwür schleppte Marlies S. den Gedanken an ihr verkümmertes Kind mit sich herum. Fragen ausweichend, um Lügen verlegen, an den teilnahmslosen M. gekettet. Was auch immer Jessicas Eltern sonst verbunden haben mag – zusammengeschweißt waren sie jedenfalls durch das gemeinsame Wissen um das Grauen im Kinderzimmer.

Wenn Unmenschlichkeiten sich nicht fassen lassen, ruhen alle Hoffnungen auf der forensischen Psychiatrie – auch im Schwurgerichtssaal 237. Seelensachverständige sollen das Unerklärliche klären und das Böse plausibel machen. In dieser Hinsicht hat es der Essener Kriminalpsychiater Norbert Leygraf mit Burkhard M. vergleichsweise leicht: Er konnte bei ihm eine durch frühkindlichen Hirnschaden und jahrelangen Alkoholmissbrauch bedingte »krankhaft seelische Störung« diagnostizieren, die als »schrecklicher Gleichmut« daherkommt. Jessicas Vater sei nur eingeschränkt schuldfähig. Er sei, sagt Leygraf, zu echten Gefühlen nicht imstande und flüchte sich in Phrasen und Redensarten. Das illustriert auch der Notruf des Angeklagten am frühen Morgen des 1. März 2005. Dabei teilte Burkhard M. den Behörden mit, dass »unser Kind heute Nacht entschlafen ist«.

Warum rief man die Feuerwehr? Manfred Getzmann, Verteidiger der Marlies S., sitzt in seinem Büro auf Sankt Pauli und zerbricht sich den Kopf. Er hat seine Mandantin gefragt, warum sie Jessicas kleine Leiche nicht einfach in einen Müllsack gepackt und entsorgt habe. Wer hätte sie schon vermisst? Da habe Frau S. das Gesicht in den Händen verborgen und geschluchzt: »So was kann ich doch mit meinem Kind nicht machen!« Unbegreiflich, findet Getzmann, »aber ich bin sicher, sie trauert um Jessica«. Auch deshalb hält er Marlies S. für »eine schwer gestörte Persönlichkeit«, die ihr Kindheitstrauma wie unter Zwang mit den eigenen Kindern immer wieder habe neu durchleben müssen und deshalb für Jessicas Tod nicht voll verantwortlich zu machen sei. Das ist Getzmanns Überzeugung, und für die kämpft er vor Gericht. Er will seiner Mandantin die lebenslange Freiheitsstrafe ersparen, die ihr unausweichlich droht, wenn das Gericht nicht finden sollte, dass ihre Schuldfähigkeit erheblich vermindert war.

Die Angeklagte sei eine normale, intelligente Frau, sagt der Psychiater

Muss krank sein, wer grausam handelt? Oder ist der Gedanke, Marlies S. sei verrückt, bloß die Hoffnung der Menschen im Saal 237 – um abzuschütteln, was ihre Vernunft übersteigt? Hätte Jessicas Mutter anders handeln können? Der Berliner Psychiater Hans-Ludwig Kröber hat daran keinen Zweifel. Er hat Marlies S. im Auftrag des Gerichts untersucht und keine klassische psychische Erkrankung festgestellt. An das große Trauma glaubt er auch nicht. »Ich wäre heilfroh gewesen, wenn ein seltener hirnorganischer Befund vorgelegen hätte oder irgendein grässliches Erlebnis«, sagt Kröber zu den Richtern, »dann hätten wir uns alle besser gefühlt – ich auch.« Aber die Jugend der Marlies S. unterscheide sich in nichts von der Tausender anderer ungeliebter Kinder. Wohl sei die Angeklagte mit enormen Defiziten behaftet, aber doch letztlich eine normale, intelligente Frau, deren infantile Bedürfnisse sich mit den Anforderungen eines kleinen Kindes nicht vertrugen und die deshalb angefangen habe, es zu piesacken und wegzusperren. »Über Wochen und Monate ist Zeit gewesen, das Kind zu retten«, sagt Kröber, »sie hat es nicht getan.« Jessicas tödliches Siechtum sei die Entscheidung ihrer Mutter gewesen.

Als der israelische Schriftsteller Amos Oz im August den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt entgegennahm, hielt er eine Rede über das Böse. »Ich glaube, dass jeder Mensch in seinem Herzen fähig ist, das Gute vom Bösen zu unterscheiden«, sagte er, »auch wenn er vorgibt, es nicht zu können. Das Böse hat einen untrüglichen Geruch. Jedes Kind weiß, was Schmerz ist. Darum wissen wir jedes Mal, was wir tun, wenn wir einem anderen mutwillig Schmerz zufügen: Wir tun Böses.« Selbst Kaspar Hauser, den niemand zum Menschen erzogen hatte, soll das gewusst haben. Augenzeugen berichten, dass er außer sich geriet und in Tränen ausbrach, wenn ein Kind geschlagen wurde. Wollte jemand ein Insekt töten, habe er das Tier geschützt und geschrien: Es will auch leben.

Und Marlies S.? Hat sie sich für das Böse entschieden? Und ist bloß ein Beispiel dafür, dass menschliche Not für das Böse anfällig macht? Dass Böses auch ein Defizit am Guten ist und jeder nur geben kann, was er empfangen hat? Ihr Verteidiger spricht von der »transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen«. Man kann es auch Erbsünde nennen. Gemeint sind jene Gesetzmäßigkeiten der Familiengewalt, die von den Eltern auf die Kinder und Kindeskinder übergehen und die trotzdem den Einzelnen nicht aus seiner Schuld entlassen. Es fragt sich nur, ob solch ererbte Schuld nicht doch geringer wiegt.

Folgt das Landgericht Hamburg aber dem Sachverständigen Kröber, so muss es gegen Marlies S. die lebenslange Freiheitsstrafe verhängen. Was sie selbst erlitten hat und wie sie wurde, was sie ist, bliebe ohne Wirkung auf das Strafmaß. Die Gestraften werden bestraft. Das ist das Dilemma der Strafjustiz. Und die Tragödie der Marlies S.
 

Jessica kleiner engel
Geboren am 00.00.0000
Gestorben am 01.03.2005

4.619 179 10

Zurueck zur Gedenkstaette Erstellt am 27.01.2011,
Erstellt von wir haben keine fluegel

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